In Memoriam Prof. Dr. Peter Heintz: 6. 11. 1920 - 15. 3. 1983
Nachruf, geschrieben von Prof. Dr. Hans Geser in der Schweizerischen Zeitschrift für Soziologie (1983):
[…] Peter Heintz wurde am 6. November 1920 als Sohn eines Kaufmanns in Davos geboren und hat seine Studien in Paris, Köln und Zürich 1943 mit der Promotion zum Dr.oec.publ. abgeschlossen. Für sein lebenslanges Interesse an der Soziologie war die Begegnung mit Rene König (der während des 2. Weltkriegs nach der Schweiz emigriert war) bestimmend, bei dem er später mit einer Arbeit über “Die Autoritätsproblematik bei P.-J. Proudhon” (erschienen 1956) habilitierte. Zusammen -mit seinem eingänglich geschriebenen Frühwerk “Anarchismus und Gegenwart” (1951) und der heute ebenfalls noch sehr lesenswerten Schrift “Soziale Vorurteile” (1957) stellte sich Heintz zusammen mit König, Adorno, Janowitz u.a. in die Reihe jener führenden Soziologen, die nach dem Zusammenbruch des Faschismus versuchten, die Entstehungsbedingungen autoritativer Verhaltensweisen und repressiver Herrschaftsordnungen freizulegen und Wege zu humaner Emanzipation und Kreativität aufzuzeigen.
Er gab seinem ganzen weiteren Lebensweg selbst eine dramatische Wende, als er sich 1956 der UNESCO als Experte zur Verfügung stellte, um in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern die Reorganisation des soziologischen Lehr und Forschungsbetriebes an die Hand zu nehmen. Nach seiner Leitung der Sozialwissenschaftlichen Fakultät (FLACSO) in Santiago de Chile (1960 1965) hat er in Argentinien die Soziologische Abteilung der Fundacion Bariloche gegründet, der er auch noch während seiner Tätigkeit in Zürich (bis 1976) angehörte.
In diese - nach seinen eigenen Worten - erlebnisreichste und sowohl für seine professionelle Identität wie seine übrigen kulturellen Interessen bestimmendste Zeit seines Lebens fällt die Publikation seines populärsten Werkes “Curso de sociología” (1960) bzw. “Einführung in die Soziologie” (1962), wo sich seine Fähigkeit zeigt, bestehendes soziologisches Wissen auf eigenständige Weise und in Richtung auf unerwartete neuartige Einsichten zu organisieren. Noch viel ausgeprägter wird diese Tendenz im wagemutigen Werk “Ein soziologisches Paradigma der Entwicklung” (1969), wo versucht wird, eine auf hohem Abstraktionsniveau kodifizierte soziologische Schichtungstheorie für die empirische Analyse der lateinamerikanischen (bzw. weltweiten) Entwicklungsproblematik fruchtbar zu machen.
Auch nach seiner Berufung an den neugeschaffenen Zürcher Lehrstuhl (1966) bis zu seinem Tode hat Heintz an seinem entwicklungssoziologischen Hauptinteresse stringent festgehalten: begleitet von den - untereinander recht spannungsvollen, ja inkompatiblen - Bestrebungen, 1) die Kodifikation der Weltsystemtheorie in Richtung auf eine äusserst allgemeine “Theorie struktureller und anomischer Spannungen” voranzutreiben, 2) durch restriktive Formalisierungen die Bedingungen für eine modellhafte Abbildung quantitativer Entwicklungsverläufe (z.B. durch Computersimulation) zu schaffen und 3) verschiedenste zusätzliche Aspekte des weltweiten Wandels (z.B. multinationale Unternehmungen, kognitive Codes, politische Regimetypen u.a.) einzubeziehen.
In diesem trigonalen Spannungsfeld ist während der letzten 17 Jahre ein umfangreiches - in seinem Stellenwert momentan allerdings noch schwierig abzuschätzendes Forschungswerk entstanden, das in so unterschiedlichen Schriften wie dem zweibändigen Sammelband “A Macrosociological Theory of Societal Systems” (1972) und den Monographien “Die Zukunft der Entwicklung” (1974), “Die Weltgesellschaft im Spiegel von Ereignissen” (1982) und “Ungleiche Verteilung, Macht und Legitimität” (1982) seinen Niederschlag fand.
Diese entwicklungs- und strukturtheoretischen Analysen wurden aber immer mehr überlagert durch kontextbezogenere, der Nachfrage schweizerischer Institutionen und Gruppierungen angepasste Forschungsthemen, ohne die das Institut bei weitem nicht seine aktuelle Grösse (von ca. 45 Mitarbeitern) hätte erreichen können. Untersuchungen zur Stellung der Frau, Unrast der Jugend, Fremdarbeiterimmigration, wirtschaftliche Multinationalisierung, Fluglärmbelastung, schweizerischen Regionalismusproblematik u.v.a.m. haben bekanntlich beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit und professionelle Anerkennung gefunden, die ohne den persönlichen unternehmerischen Einsatz und die inspirierende Betreuung des Verstorbenen niemals zustandegekommen wäre.
In der anlässlich seines 60. Geburtstages erschienenen Festschrift “Weltgesellschaft und Sozialstruktur” haben sich nochmals über 50 professionelle Freunde aus der ganzen Welt zu einer verdienten des von seiner Anlage her notwendig fragmentarischen, in der Vielfalt seiner direkten und indirekten Wirkungen aber kaum überblickbaren Lebenswerks zusammengefunden.
Weniger als bei den meisten andern (z.B. den als “Klassiker” kanonisierten) Soziologen ist es im Falle von Peter Heintz möglich, allein durch Inventarisierung und Evaluation seines Schrifttums zu einem Ueberblick über sein Lebenswerk zu gelangen; zusätzlich müsste man wohl jeden Einzelnen, der mit ihm bekannt war, danach fragen, welches Gesicht dieser komplexen und ihren intellektuellen Samen in die verschiedensten Richtungen streuenden Persönlichkeit er kennen lernte und welche seiner Charaktereigenschaften Handlungsmaximen, Ideen oder theoretischen Konzepte bei ihm auf fruchtbaren Boden fielen. Andererseits verbirgt sich gerade hinter der
Vielfalt dieser subjektiv vermittelten Wirkungen die lebenslänglich Intention, einem gleichzeitig sehr persönlich und sehr universalistisch geprägten Verständnis der Soziologie und der Rolle des Soziologen (als eine Art intellektueller “façon de vivre”) zum Durchbruch zu verhelfen. Zu den konstitutiven Elementen dieser professionellen Identität gehören nicht so sehr spezifische Bestände an Begriffen, Propositionen oder empirische Regularitäten, von deren adäquater Rezeption und Weiterentwicklung durch Epigonen sein Weiterwirken über den Tod hinaus abhängig wäre; vielmehr sind es relativ stark generalisierte, ethische, epistemologische, theoretische und methodische Gesichtspunkte und Maximen, denen wir Hinterbliebenen - bei aller kritischen Distanznahme auf Grund eigener Einsichten und Präferenzen uns weiterhin innerlich verpflichtet fühlen können.
Als erstes war sicher das Prinzip des “Universalismus” (d.h. die kosmopolitische Orientierung an einer alle traditionalen und territorialen Partikularismen transzendierenden Weltkultur eine Grundkonstante seines Wesens, wo seine rein persönliche Identität, der Stil und Inhalt seiner wissenschaftlichen Arbeit und die Art seiner institutionellen Affiliationen und Pflichtenkreise miteinander zur vollen Deckung gelangten. Die 25jährige Mitarbeit in der UNESCO, die Hinwendung zur Weltsystemanalyse als jahrzehntelangem Generalthema, die Stimulierung von Untersuchungen über transnationale Migration, multinationale Gesellschaften, kognitive Bilder der Weltgesellschaft u.a.m. waren logische Korrelate des invarianten Grundanliegens, die kulturelle und soziale Einheit des Planeten Erde sowohl faktisch als Determinationsrahmen für verschiedene soziale Strukturen und Prozesse wie auch normativ als anzustrebenden Zeitpunkt “soziologische Aufklärung” ins Zentrum zu stellen.
Seine Aufforderung, auch soziale Problemlagen nationaler oder lokaler Art unter dem Blickwinkel ihrer globalen Bedingtheit zu betrachten, hat sich gerade im helvetischen Kulturklima als eine dringend nötige (aber auch brisante) intellektuelle Innovation erwiesen, an der man auch dann festhalten muss, wenn Forschungsgelder immer ausschliesslicher nur noch für das Studium nationaler Problemlagen freigegeben werden und diverse “Soziologien des Alltags” dazu verfüh ren, die soziale Realität von der partikulären Erlebniswelt des Individuums her zu analysieren.
Als zweites hat er uns - für viele ein innerlich beflügelndes und zu höchsten Leistungen anspornendes Erlebnis - vorgelebt, dass man wissenschaftliche Forschung als ein spontan-schöpferi sches intellektuelles Abenteuer betreiben kann, das - in gewissem Sinne voraussetzungslos von jedermann jederzeit begonnen und zu fruchtbaren Ergebnissen hin geführt werden kann. Der soziologische Forscher ist in dieser Sichtweise vorrangig ein “Pionier”, der sich - mit unersättlicher Neugier und einem zu unerbittlicher Wahrhaftigkeit verpflichtenden inneren Gewissen bewaffnet - sogleich an die äusserste Grenze des bekannten Wissens begibt, um von dort auf eigene Faust in faszinierendes Neuland vorzustossen. Grau ist für ihn ein Wissen, das - als totes Relikt vollendeter Forschungs- und Denkprozesse - nur rezeptiv aus Büchern geerntet werden kann, und unfruchtbar, ja sinnlos erscheint ihm ein Soziologiestudium, das nicht im Kern auf dem Durchleben solch faszinierender (und risikoreicher) Erkenntnisabenteuer beruht.
Eine solche Auffasung war zweifellos geeignet, um in vielen Schülern ungeheure Motivations quellen freizusetzen und um junge Soziologen mit hoher intellektueller Autonomie und einem ausgeprägten Sensorium für neuartige (vielleicht erst in Zukunft aktuell werdende) Gesellschaftsprobleme heranwachsen zu lassen. Andererseits mussten Versuche zu ihrer institutionellen Verankerung auf voraussehbare Schwierigkeiten stossen: weil disziplinäre Traditionen (selbst diejenigen am eigenen Institut) sich nicht verfestigen, Prinzipien der Wissensakkumulativität nicht berücksichtigt und Bedürfnisse nach Struktu rierung des Studienganges nicht befriedigt werden konnten.
Wer immer sich allzu autoritär oder epigonenhaft an Peter Heintz anlehnen wollte, fand sich sogleich in einer äusserst unerquicklichen “Double Bind”-Situation gefangen: weil gerade die Treue zu seinen generellen Maximen der Innovativität und intellektuellen Autonomie es gebot, gegenüber seinen spezifischeren Vorschlägen, Ideen oder Theorieentwürfen eine gewisse Distanz aufrechtzuerhalten.
Eine dritte, in ihren Auswirkungen besonders fruchtbare Handlungsmaxime bestand für ihn darin, in erster Linie nicht durch persönlichen Ruhm eintragende Publikationen, sondern auf dem - oft risikoreichen und undankbaren - Weg des expansiven “institution building” zur Entwicklung der soziologischen Disziplin beizutragen.
Er war Realist genug, um in der Schaffung einer hinlänglich stabilen organisatorischen Rahmenstruktur, in einer möglichst weitgehenden Expansion des qualifizierten Mitarbeiterstabes und in der konsequenten Erschliessung aller (notorisch knappen) kontextuellen Finanzquellen unverzichtbare Vorbedingungen für eine Verankerung der Soziologie als Forschungsdisziplin zu erblicken. So wird die weitaus sichtbarste und unproblematischste Kontinuität seines Lebenswerks einerseits durch mannigfache institutionelle Einrichtungen (insbesondere auch die als Erbe seines persönlichen Vermögens eingesetzte “Stiftung zur Förderung sozialwissenschaftlicher Forschung über Weltge sellschaft”) garantiert, und andererseits durch die zahlreichen jungen Soziologen, die im Rahmen des umfangreichen institutionellen Forschungsbe triebs Gelegenheit hatten, sich nach dem Studium umfassend weiterzuqualifizieren und sich eine eigenständige professionelle Reputation zu erwerben.
Das Operieren im maximalen Spannungsfeld zwischen theoretischer Spekulation einerseits und induktiv empirischer Orientierung andererseits bildete ein viertes Grundprinzip, das seine - in didaktischer Hinsicht sonst manche Wünsche offen lassen den - Lehrveranstaltungen zu einer intellektuellen Attraktion ersten Ranges machte. Es war für die schweizerische Soziologie insgesamt ein glücklicher Umstand, dass dieser Mann, der (mangels zusätzlicher Lehrstühle) für seine Studenten jahrelang die soziologische Disziplin als Ganzes repräsentieren musste, durch die Komplexität (und vielleicht auch: innerliche Widersprüchlichkeit) seiner Person in der Lage war, die Soziologie als eine auf äusserst theoretische Generalisierung und auf stringente empirische Ueberprüfung ausgehende Disziplin vorzuführen und von seinen Schülern eine ähnliche bivalente Orientierung zu verlangen. Ohne sein vorgelebtes Beispiel hätte der Verfasser dieser Zeilen vielleicht nie gelernt (bzw. den Mut dazu gefunden), einerseits empirische Regularitäten auf ihre allgemeinsten theoretischen Implikationen hin abzufragen, und andererseits auf die empirische Testbarkeit auch sehr generel ler Propositionen zu vertrauen.
Eine fünfte Invariante seines Denkens bestand in seiner Tendenz, soziale Strukturverhältnisse auf allen Ebenen vorrangig unter dem Aspekt der schichtmässigen Differenzierung (d.h. der ungleichen Verteilung wertvoller Güter und Mobilitätschancen) anstatt unter dem Gesichtspunkt der funktionellen Differenzierung (d.h. der Ausgestaltung verschiedener Formen der Arbeitsteilung und Kooperation) zu analysieren. Dieser sich im Zusammenhang mit der internationalen Entwicklungsproblematik natürlich besonders aufdrängende Gesichtspunkt der “Ungleichheit” hat - im Sinne einer axiomatischen paradigmati schen Ausgangsbasis - in den Arbeiten vieler seiner Schüler (z.B., über die Stellung der Frau, die Unrast der Jugend, den Einfluss multina tionaler Firmen u.a.m.) eine unbestreitbar fruchtbare Anwendung gefunden: begleitet allerdings von der Neigung, soziale Verhältnisse allzu einseitig als “Nullsummenspiele” anzusehen und (durch Vernachlässigung der mit funktionaler Differenzierung und Kooperation verbundenen innovativen Möglichkeiten) einen gewissen “Strukturpessismus” zu kultivieren.
Schliesslich lässt sich der in seinem theoretischen Denken so prominente Terminus technicus der 'strukturellen Spannung' als ein Schlüssel zu seiner ontologischen Weltauffassung schlechthin interpretieren. In (meines Wissens durchaus impliziter) Anlehnung an Karl Marx und Georg Simmel drückt sich darin die Vorstellung aus, dass soziale Strukturverhältnisse auf Grund ihrer inhärenten Konfliktivität in sich selber Kräfte der Selbstlabilisierung, des Wandels und der Gesamttransformation generieren, aus denen sich für die beteiligten Akteure Handlungsoptionen und “strukturelle Chancen” ergeben. Dieser “Endogenismus” hat im Zusammenhang mit der Weltgesellschaftanalyse (wo zumindest auf der sozialen Systemebene keine externen Referenz systeme mehr existieren) etwas Verständliches, ja Zwingendes an sich, stösst aber überall dort auf Grenzen, wo - wie z.B. bei formalen Organisationen - vorrangig exogene, aus der Umwelt des Systems herrührende Spannungsquellen und Adaptationszwänge berücksichtigt werden müssen.
Indem er “Entwicklung” (in fast marxistischer Weise) als einen über risikoreiche Phasen innerer Instabilität und Konfliktivität laufenden Prozess systemischer Selbstkatalyse begriff, mochte Peter Heintz nicht nur eine ontologische Grund erfahrung, sondern auch ein - zumindest für ihn selbst zwingend gültiges - existentielles Prinzip ausgesprochen haben: die Maxime etwa, im Interesse maximaler individueller Selbstbestimmung und Offenheit aus selbst erzeugten Verhaltensroutinen und Denkgewohnheiten immer wieder auszubrechen und bis ans Lebensende die anstrengende, einsame Rolle des intellektuellen Pioniers allen geborgeneren und glücklicheren Formen menschlicher Existenz vorzuziehen. ~~UP~~